Roland Zoss: Saitenstrassen Musikroman

Der Musikroman über die Sixties & Seventies

von einem, der dabei war

Mit Flowerpower, durchs beste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Der Songwriter legt mit seinem Roman - einer musikalisch-literarischen Hommage an den Musiker Micha Blinz - ein fulminates Stück Prosa vor. Wie ein Regenbogen spannt sich diese Reise eines Suchenden über den amerikanischen Kontinent von San Francisco nach Rio. Ein Trip in die Träume und Visionen der 68er Rebellen und der nachfolgenden Love & Peace-Generation. Musik in Buchform.

«Ich wollte nie zu denen gehören, die ihre Träume verraten.
Ich wollte nie einer werden, der weiss wo er hingehört.
Ich wollte die Welt umkreisen als Kind, der Sonne gehören dem Wind.
Dann und wann eine Freundin haben - eine Nacht lang wie ein Leben.
Und beim Erwachen die Weisheit der Bäume spüren.
»

Hauptfigur Micha Blinz im Roman «Saitenstrassen»

Tikal, Guatemala - einer der Schauplatz im Roman

Don Dolores und Carmen, Guatemala

«Saitenstrassen oder die Melodie des Zufalls» | Textauszüge:

TROUBADOUR
Los Angeles, 9801 Santa Monica Boulevard
Etwas Stolz und etwas Ehrfurcht erfüllen ihn, als er die Klinke der getäferten Holztür niederdrückt. Vor ihm tauchen grosse Namen auf: Pete Seger, Joni Mitchell, Bob Dylan. Am Anschlagbrett neben dem Eingang hängt ein Zettel: Monday musicians may apply at 8 p.m. in the office. Die Uhr auf der gegenüberliegenden Strassenseite blinkt pinkfarbige 20:12. Ein paar Treppenstufen später klingt Michas Song aus dem ersten Stock. Das Fenster steht offen. Er spielt konzentriert, in den Instrumentalpassagen begleitet vom Rauschen des Verkehrs. Sein Lied kommt ihm länger vor als der ganze Santa-Monica-Boulevard. Dann stellt er die Gitarre an die Wand und erwartet das Urteil. «Sounds well – come and play next monday!»

Er hätte aufspringen können, dem Promoter seinen Triumph ins Gesicht jubeln. Im Korridor, da standen sich ein gutes Dutzend lokaler Musiker die Beine in den Bauch und warteten auf ihre Chance. Und er, der «German Songwriter», der völlig Unbekannte, kriegte sie! Im gelben Taxi liess er sich längelang in den Fond fallen: «Sounds well – sounds well!», und durch sein aufgedrehtes Hirn dröhnte der Applaus des Erfolgs. Mike has made it, wow! Und bereits nuschelte er in Reportermikrofone, grinste in Fotoblitze und futterte dazu tonnenweise Soft-Ice. Er konnte à l'américaine die Beine aufs Pult des Managers strecken, wo aufgeschlagen der Rolling Stone lag, das Musikmagazin. Auf Seite neun die Reportage mit seinem Bild. Geschafft! Nie mehr als Troubadour durch den deutschen Winter trampen, auf der Suche nach Konzerten und Plattenproduzenten. Nie mehr an der Autobahnauffahrt stehen, in Schneewächten bis zum Knie.

Weisses kaltes Märchenland. Micha friert nicht. Der türkische Schaffellmantel gibt warm. Aber die Martin-Gitarre im Kasten, ob sie Minusgrade erträgt? Er zieht den Hut tief ins Gesicht gegen den schneidenden Biswind, streckt den Daumen ins Gestöber. Aus einem Mercedes steigt er um in einen Döschwo.
Jede Fahrt und jeder Fahrer ist anders. Anders das Klima, anders der Geruch der Polster, der Rausch des Unterwegsseins. Je nach Gefährt und Gefährten verwandelt sich Micha, sprudelt hier über vor Abenteuerlust – starrt dort stumm wie der Tod in die Schneefetzen, die auf die Windschutzscheibe zutaumeln, weggedrückt werden von der Mechanik der Scheibenwischer. Verloren im Horizont. Das Ziel unwichtig. Nur unterwegs sein. Wach sein, bis zum nächsten Rendezvous mit dem Schicksal. Mit Songs im Kopf und Sätzchen, die Eindruck machen bei den Sekretärinnen, über die er sich in Köln oder Hamburg in die oberen Etagen der Glaspaläste wird hochflunkern müssen. In den Olymp von CBS, WEA und DEUTSCHE GRAMMOPHON. Zu den Geschäftsherren des Klangs, den Zuhältern der Hitparaden, wo jede Minute kostbar ist, jede Unterschrift Ruhm bedeutet – oder hinausgeschmissenes Geld. Wo man von Produkten und Stimmwiedererkennungs-Werten spricht; wo der A&R Manager zwischen zwei Ferngesprächen und einer Schachtel Pralinen das mitgebrachte Demoband beurteilt – Studioarbeit von zwei Wochen. Und einmal im Jahr wird ein Star gemacht.

Als das Taxi vom Freeway nach Tujunga abbog, war er fast hundertprozentig sicher, dass mit der Tür zum TROUBADOUR ein neues Kapitel in seinem Leben aufgeschlagen worden war. Amerika würde sein Talent erkennen. Nie mehr müsste er sich auf fremden Sofas in schlecht geheizten Künstlerbuden die Nacht um die Ohren schlagen. Da ein quickes Radiointerview, dort ein Fünfmarkstück in den Hut des netten Strassenmusikers, eine warme Umarmung mit auf den Weg, ein anerkennendes Lächeln, von dem man wieder ein paar Tage, ein paar Strophen lang zehren kann. A star is born.

Lago Peten, Guatemala
Don Dolores kauerte im Getreideschopf und rüstete den Hühnern das Futter. Er sprach halblaut zu sich selbst und blickte nicht auf, als Micha sich zu ihm setzte. Ab und zu erhob er sich vom Hocker, um Nachschub zu holen, schlurfte in einen Winkel, wo das geerntete Mais der milpa aufgestapelt war. Ein steinzeitliches Licht lag in der Scheune. Über den Hof wetzten die Ferkel, rannten sich die Köpfe in die Rippen wie die Grossen, vollführten akrobatische Luftsprünge und Schweinetänze. Ab und zu flog eine Handvoll schlechter Körner vor die rosaroten Schnauzen.

«Para comer!» Don Dolores deutete mit einer schmerzlich-komischen Gebärde auf seinen Mund, auf den letzten schwärzlichen Stummel drin. Er lächelte. Sein Lächeln hatte etwas Unzerstörbares, Seliges.
Micha lenkte das Gespräch auf die Maya-Ruinen. Da hoben sich die mürben Augenlider um ein paar Millimeter. Ein schlauer Schimmer überstrahlte Don Dolores' Furchenmiene:
«Los Mayas. Si, si. Es gibt dort noch andere Ruinen in der Selva. Jenseits vom Fluss. Claro. Schon immer dort... Olvidado. Übersehen von den Gringos». Er sprach mit einer Langsamkeit, als horche er jedem Wort nach, jedem Echo eines Wortes – bis es wohlbehalten beim Zuhörer angekommen war.

«Si si, Sohn Danielo kennt den Ort. Aber was tausend Jahre unberührt geblieben ist, kann es auch weiterhin bleiben. Bald hat die Selva alles überwachsen. Bald wachsen auch auf meinem Grab Brennesseln. Asi es. Wer ein gutes Leben hat, dem wächst das Unkraut auf dem Grabe!»
Er kicherte, fuhr mit Abkornen fort und sah nicht aus, als ob er noch ein einziges Wort darüber verlieren möchte. Diese Hände! Micha starrte auf die ledrigen Händen, die die Fruchtkolben ergriffen, sie streichelten, entkornten. Es waren die Hände seines Grossvaters. Derselbe Zauber, dasselbe Geheimnis. Das Geheimnis der Langsamkeit.

Er wollte den Bewegungen noch ein Weilchen zusehen, der Sorgfalt, mit der die von Gicht angequollenen Gelenke schafften, mit der die vom Holzen gespaltenen Fingernägel die Samen von den Kolben kratzten. Bald wird die Geduld sich niederlegen, werden diese fleckigen Pergamenthände aussterben. Dann fahren Hektik und Konkurrenzkampf auch in dieses Dorf ein. Die Söhne und Töchter werden nach Guatemala-Stadt abwandern, Mexiko und Miami. Oder sie schaukeln Touristen über den See, verkaufen ihren Körper im Gastgewerbe vermögenden Señores.
Vielleicht ist es besser, dass Don Dolores nicht weiss, was auf seine Sippe, auf Kinder und Kindeskinder zukommt. Der Gedanke, dass die grosse Zeit der Grossväter auch hier abgelaufen war, tat Micha weh. Er kam sich vor wie ein humanitärer Delegierter aus der Zukunft, der tatenlos das Aussterben einer unwiderbringlichen Kultur, einer zähen, grossherzigen und erdverbundenen Generation registrieren musste.

Er durfte alles beobachten und das Verschwinden registrieren, aber er war durch seinen Eid zum Schweigen verurteilt. Also schwieg er, die Hände in den Schoss gelegt, hörte die Stimme der Erde aus Don Dolores Gesten. Spürte die Kraft zwischen dem letzten ausgesprochenen Wort und dem nächsten, das schon sprungbereit auf der Zunge lag. Als er aufstand, entfuhr ihm ein Rülpser. Verschämt blieb er stehen. Don Dolores stiess ihn in die Rippen und grinste:
«Bien habla quien bien calla!» – gut gerülpst ist halb gesprochen!» Seine Äuglein blickten Micha an und durch ihn hindurch in die Ferne, in die er bald gehen würde.

An der Demo «Dubcek - Svoboda»
Das Schicksal stiess ihn mitten hinein in die erste Minderjährigenrevolte der Moderne. Brave Durchschnittsbürger trugen auf einmal Verbrechervisagen, wenn er ihre Werte hinterfragte. Das heile Bild der Familie bekam einen Riss. Die Sexualität stand kopf. Nichts war mehr sicher, nicht mal die Bratwurst in der Pfanne. Michas Notendurchschnitt hatte nicht genügt, um ihm das Zusatzfach Englisch zu öffnen – und den Rock 'n' Roll. Doch die Stones verstand er auch so: I Can't Get no Satisfaction – Street Fighting Man. Yeah, das roch nach Strassenkampf und Krieg für eine gerechte Sache; nach dem Bouquet von 68er Tränengas. Bei jeder mittelmässigen Demo war es zu schnüffeln.

Im August 1968 entzündeten sich einige Gemüter an Frankreichs H-Bomben-Explosion. Aber erst am 21. August, als Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR einmarschierten, ging es so richtig los. In der Nacht vor der russischen Botschaft, als der Polizist Feuer fing. Sie alle, die jung waren, etwas Grütze und Mumm im Leib hatten, marschierten über die Kirchenfeldbrücke auf Moskau zu. Ein Megafon schrie sie weiter. In der Dämmerung entzündeten sich Hunderte von Fackeln. Die Herzen schlugen im Takt für die Freiheit der Tschechoslowakei. Bis diese Barrikade kam und den aufgestauten Gefühlen den Zugang zur Russenbotschaft versperrte: Stacheldraht made in Switzerland. Im Halbdunkeln zwischen Botschaftsgebäude und Drahtverhau eine finstere Mauer von Polizei.
Das stumme Dastehen provozierte die Menge. Welle um Welle wogte auf den Gitterverhau zu. Und dann, dann warf doch so ein Arsch von weit hinten einen Molotow-Cocktail. Als die Uniformhose des Polizeigrenadiers Feuer fing, klappten die Visiere zu. Im Widerschein des Brandes fuhren zum Knüppel, Tränengasschützen gingen in Stellung und Fotoreporter in Deckung.«Aaaachtung –Tränengas!» Während ein Wasserwerfer den brennenden Mann löschte, rückte die Verteidigungsreihe zum Angriff vor. Innert Sekunden hatte der giftige Sprühnebel die Aggressionen der «Dubcek-Svoboda»-Rufer umgepolt zu: «Nazi-Nazi-Schweine!» Die Mutigsten rissen mit blossen Händen am Stacheldraht.

«Saitenstrassen oder die Melodie des Zufalls» | Musikroman
Erschienen als Buch und E-Book sowie als Podcast-Lesung (gratis)
Auch erhältlich: CD «Best of 1976-1989» mit Songs zum Buch

Das Buch

Erschienen als Buch und E-Book sowie als Podcast-Lesung (gratis)
Auch erhältlich: CD «Best of 1976-1989» mit Songs zum Buch

«Behutsam lässt der Autor die Worte kreisen, überlässt sich sprachverliebt dem Erzählrausch. Seine Beschreibungen schmecken und schmerzen, blühen.»

Bruno Bächler, music scene | 1998
über den Musikroman «Saitenstrassen»

«Stärker fiel Roland Zoss ins Gewicht – in einem dichten in Costa Rica angesiedelten Stimmungsbild.»

Charles Linsmayer, Solothurner Literaturtage | 2010
über den Musikroman «Saitenstrassen»